Dogville
Bestandesaufnahme der condition humaine
Lars von Triers eindringliche Fabel über menschliche Schwäche, die korrumpierende Wirkung von Macht und kompromisslose Rache.
Als Lars von Trier im Jahr 2000 seinen Film „Dancer in the Dark“ in Cannes vorstellte, wurde er von einigen US Journalisten dafür kritisiert, einen Film zu machen, der in Amerika spielt, ohne selber je einen Fuss auf amerikanischen Boden gesetzt zu haben. Lars von Trier fühlte sich davon so sehr provoziert, dass er sich entschloss, nicht bloss einen weiteren Film, sondern gleich eine ganze Trilogie über Amerika zu drehen, wovon „Dogville“ der erste Teil ist.
Als einer der Mitbegründer von Dogme95 ist Lars von Trier bekannt für den experimentellen Charakter seiner Filme. Obwohl der Film nicht mehr streng den Regeln des Dogme95 Manifestes verpflichtet ist, ist er in seiner Reduktion auf das Wesentliche, nämlich die Schauspieler, wohl der bisher radikalste Film von Lars von Trier. Inspiriert vom minimalistischen Stil des Brechtschen Theaters hat von Trier auf jegliche Requisiten verzichtet, die nicht unmittelbar mit der Geschichte in Zusammenhang stehen. So spielt denn der ganze Film auf einer schwarzen Bühne, auf der mit weisser Farbe die Umrisse von Häusern und Strassennamen eingezeichnet sind. Selbst der Hund ist imaginär, als blosser Umriss auf dem Boden eingezeichnet und die Schauspieler öffnen und schliessen Türen, die auch imaginär sind. Dies mag den Zuschauer zunächst befremden, doch nach einiger Zeit nimmt man gar nicht mehr wahr, dass die Türen nicht physisch vorhanden sind.
Dogville ist eine kleine abgeschiedene Stadt in den Rocky Mountains, zur Zeit der Depression in Amerika. Hier lebt auch der aspirierende Romanauthor Tom Edison, der sich die Zeit bis zu seinem ersten niedergeschriebenen Satz damit vertreibt, die Bewohner mit seinen philosophisch-moralischen Fragestellungen zu beglücken. Die Monotonie des Kleinstadtlebens wird eines Abends durch zwei Schüsse jäh unterbrochen. Kurz darauf taucht Grace in der Stadt auf; sie ist auf der Flucht vor Gangstern. Tom überredet die anderen Bewohner, Grace in der Stadt zu verstecken. Als Gegenleistung für diese gastfreundliche Aufnahme soll Grace für alle Bewohner kleinere Arbeiten verrichten. Dies geht gut, bis zwei Wochen später ein Polizist ein Fahndungsplakat von Grace aufhängt, in welchem sie als gefährliche Kriminelle denunziert wird. Die Bewohner sind im Zwiespalt, ob sie das Risiko, Grace auch weiterhin in der Stadt zu verstecken, eingehen wollen; sie willigen schliesslich ein, aber unter der Voraussetzung, dass Grace jetzt doppelt soviel arbeitet und zugleich weniger Lohn bekommt.
Die Bewohner der Stadt, die anfangs recht hilfsbereit schienen, entpuppen sich immer mehr als engstirnige Menschen mit Makel, welche Graces unglückliche Lage schamlos ausnutzen und sie grausam und menschenverachtend behandeln, aber alles immer noch unter dem Deckmantel, ihr helfen zu wollen. Der Film ist nicht, wie von gewisser Seite behauptet, anti-amerikanisch, sondern lotet das menschliche Potential für Grausamkeit und Machtmissbrauch aus. Die Bewohner von Dogville werden zu Beginn als gewöhnliche Leute dargestellt; doch in dieser Situation, wo Grace ihr Schicksal in ihre Hände gibt, entlarvt sich jedes Mitglied der kleinen Gemeinde als grausam und auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Gerade die Durchschnittlichkeit der Bewohner macht ihr Verhalten so verstörend: es sind Leute wie du und ich die sich plötzlich so menschenverachtend verhalten.
Da der Film eine zynische Bestandesaufnahme der menschlichen Gesellschaft widerspiegelt, darf auch das Ende nicht versöhnlich ausfallen. Der Zuschauer kann seine Genugtuung über das Schicksal der Bewohner der Stadt nicht ganz verhehlen und fragt sich betroffen, was das über seine eigenen moralischen Wertvorstellungen aussagt.
Lars von Trier ist ein eindrückliches Werk über den Verlust von Menschlichkeit gelungen, und wozu es führt, wenn eine Gemeinschaft Macht, die sie über andere, schwächere Mitglieder der Gesellschaft hat, ungezügelt durch jegliche ethischen Richtlinien ausnutzt. Trotz einer Länge von benahe 3 Stunden ein unbedingt sehenswerter Film.
„Dogville“ (Drama) von Lars von Trier, 2003
mit: Nicole Kidman, Paul Bettany, Harriet Andersson, Stellan Skarsgård, Chloë Sevigny, Lauren Bacall, Ben Gazzara, James Caan, Jean-Marc Barr
Dauer: 2h58
Vertrieb: Monopole Pathé Films